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Milch besser nicht

 
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1 Historie

Milch, das historisch neue Nahrungsmittel

Milch ist das jüngste Lebensmittel auf dem menschlichen Speiseplan. An Jugend wird es nur von Gen-Food übertroffen, das entwicklungs­geschichtlich betrachtet noch im Embryonalzustand steckt. Weil Milch erst seit kurzer Zeit eine Rolle in der menschlichen Ernährung spielt, sind wir global gesehen ungenügend an sie angepasst. Um das zu verstehen, genügt ein Blick in die jüngere Vergangenheit allein nicht. Wir müssen mit der Evolutionsgeschichte beginnen und anthropologische Erkenntnisse über die Ursprünge des homo sapiens einbeziehen. Erst dann lässt sich nachvollziehen, wie neu die moderne Milchernährung in Wirklichkeit ist.

Menschen werden heute zu den Omnivoren (Allesessern) gezählt, weil sie sich ebenso von pflanzlicher wie von tierischer Kost ernähren können. In unseren Ursprüngen waren wir jedoch ganz auf pflanzliche Nahr­ung eingestellt. Anhand der Entwicklung von Gebissen gefun­dener Urmensch-Fossilien ist dies zu erkennen und ferner an physiologischen Gegebenheiten, wie unserer Unfähigkeit Vitamin C im Körper selbst herzustellen. Dies gilt als typisches Merkmal aller Pflanzen-(fr)-esser.1 Denn wer sich von Pflanzen ernährt, erhält quasi nebenbei eine ausreichende Vitamin-C-Versorgung, die eine eigene Synthetisierung überflüssig macht. Auch haben wir den für Pflanzen(fr)esser typischen langen Dünndarm mit Zotten. Karnivoren (Fleischfresser) dagegen besitzen nur kurze glatte Verdauungsschläuche, damit schädlicher Eiweißverwesung vorbeugend das tierische Eiweiß möglichst schnell ausgeschieden werden kann. Wir Menschen sind physiologisch also noch heute eher Pflanzenesser. Aus den Verhaltensforschungen über Menschenaffen, die als Pflanzenfresser gelten, wissen wir jedoch, dass diese gelegentlich mit großer Freude und Genuss auch Fleisch von größeren Tieren verspeisen.2 Ähnlich wird man sich unsere Ursprünge vorstellen dürfen: grundsätzlich pflanzliche Kost mit gelegentlicher Einlage tierischer Proteine. Diese Kost war wohl die geeignetste, um uns zum homo sapiens zu entwickeln.

Worin bestand nun diese Kost im Einzelnen? Der Speiseplan sah Knollen, Wurzeln, Grünzeug wie Binsen und Riedgras, Samen, Nüsse und Beeren vor, ferner Käfer, Schnecken, Insekten, Muscheln und Eier der verschiedenen Vogelarten, neben Fisch und Fleisch von Kleintieren eines unserer ältesten tierischen Nahrungsmittel. Viel früher als man gemeinhin annimmt, nämlich seit ungefähr 1,5 Millionen Jahren kennen Hominiden das Feuer. Seither hat man immer weniger rohe Lebensmittel gegessen, dafür mehr zubereitete, gegarte, also erwärmte Nahrungsmittel, überwiegend jedoch pflanzliche, zum geringeren Teil auch tierische. Tierische Kost in Form von größeren Tieren nahm erst im jüngeren Paläolithikum zu, parallel zur weltweiten Entwicklung der Jäger- und SammlerInnenkulturen. Aber auch hier dominierten tierische Proteine noch nicht. Die gesammelte, pflanzliche Nahrung hat immer etwa 70 % – mit Abweichungen nach oben und unten – der Gesamtnahrung ausgemacht. Manche Forscher vermuten allerdings eine zeitweilig überwiegende oder sogar ausschließliche Ernährung von Großtieren. Sofern diese in Mittel-, Südeuropa und Vorderasien überhaupt stattgefunden hat, ist sie eine Sonderentwicklung, die zeitlich in den letzten Abschnitt der Altsteinzeit fällt. Diese Periode war, was die Ernährung und die kulturelle Entwicklung angeht, bereits differenziert und lässt partielle Fehlentwicklungen erkennen, die ganze Gesellschaften an den Rand des Ruins gebracht haben. Denn Menschen, die sich allein von magerem Fleisch ernährten – und Wildtiere hatten kaum Fett – litten auf Dauer an gravierenden Mangelsyndromen.

Als sich aus den nomadisierenden Jäger- und SammlerInnenkulturen ab etwa 10.000 v. Chr. langsam Viehzucht und Ackerbau betreibende sesshafte Kulturen entwickelten – man bezeichnet diesen Vorgang als neolithische Revolution – traten zusätzlich ernährungsbedingte Fehlentwicklungen auf. Denn durch die sesshafte, Ackerbau- und Viehzucht betreibende Lebensweise wurde Überschussproduktion und als Folge davon einseitige Ernährung im großen Stil überhaupt erst möglich. Aus der archäologischen Forschung sind viele Hinweise auf solche Fehlentwicklungen bekannt.

Kenneth F. Kiple, einer der Herausgeber des "The Cambridge World History of Food", der im Jahre 2000 erschienenen, weltweit wohl größten Enzyklopädie über Ernährung, hat die Periode so beschrieben:

…Paradoxerweise hat die höhere Nahrungsproduktion, die durch Viehzucht und Ackerbau möglich wurde, zu Umbrüchen in der Ernährung und zu Defiziten geführt. Es scheint gerade in Bezug auf die menschliche Gesundheit so, dass die vielen neolithischen Revolutionen weltweit, mit denen der Ackerbau erfunden und immer wieder neu eingeführt wurde, im kollektiven Bewusstsein der Menschheit als die größten Errungenschaften überhaupt verankert, tatsächlich Schritte rückwärts waren. Mehr noch, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass der überlegene Ernährungsstatus der Jäger- und Sammlergesellschaften gegenüber ihren sesshaften Nachfahren ohne die zwei Nahrungsgruppen, die wir heute als Grundnahrung (basic) ansehen – Getreide- und Milchprodukte – die erst infolge der neolithischen Revolution eingeführt wurden, erreicht und aufrechterhalten wurde, dann stellt die Überlegenheit der Jäger- und Sammlergesellschaften eine absolute Häresie gegenüber landläufigen Ernährungsdogmen dar…

Im Rahmen der neolithischen Revolution, die sich weltweit in einem Zeitfenster von etwa 7000 Jahren abspielte, vollzogen sich in der menschlichen Ernährung gravierende Veränderungen. Tierische Nahrungsmittel – Fleisch, Milch, Eier – und pflanzliche Nahrungsmittel – Getreide, Gemüsepflanzen, Obst – kamen erstmals oder in einem bis dahin nie gekannten Umfang auf den menschlichen Speiseplan. Es begann mit der Domestizierung von Haustieren ab ca. 10.000 v. Chr., die eine kontinuierliche Zunahme tierischer Nahrungsmittel ermöglichte, in erster Linie und hauptsächlich Fleisch. Ab schätzungsweise 7000 v. Chr. wurde dann langsam Getreideanbau und Gartenbau üblich. Schließlich folgte als Letztes die Milch der Haustiere, für die erst ab etwa 5000 v. Chr. gezielte Produktion und Verarbeitung nachgewiesen ist.

Fleisch und Vogeleier hatten in der menschlichen Ernährung schon lange eine Rolle gespielt, Milch bis dato überhaupt noch nicht. Bei den pflanzlichen Nahrungsmitteln waren die Getreide die Neulinge, denn gesammeltes Wurzelgemüse kannte man ebenfalls schon lange. Alle Getreidearten und Milchprodukte müssen als neue Nahrungsmittel in der menschlichen Ernährung im Zuge der neolithischen Revolution angesehen werden. Heute haben sie die Stellung von Grundnahrungsmitteln eingenommen. Die Zeit, die wir zur Anpassung an diese Nahrungsmittel hatten, ist entwicklungsgeschichtlich gesehen recht kurz. Unsere Adaption ist längst noch nicht abgeschlossen...

 
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Letzte Änderung am 22.01.2006